Mittwoch, 13. Oktober 2010

Tempelhof 21






Wie begründet man seine eigene Meinung, wenn man sich selbst nicht ganz sicher ist, ob es eine gescheite Begründung überhaupt gibt? Am besten, man fängt mit einer Prämisse an, die man selbst nicht begründen muss, und die man sich am einfachsten vom Stammtisch ausleiht, dem ja jetzt keiner mehr zu widersprechen wagt („Es muss doch noch erlaubt sein,…“. „Danke, Herr Sarrazin, das reicht.“)


Vo da an ist es dann nicht mehr sehr schwer, jedem Unsinn irgendwie eine Begründung zu verpassen. Gute Beispiele für Stammtischwahrheiten sind:

- Die Radfahrer werden immer unverschämter und halten sich an keine Regeln (geht auf Heinz Erhardt zurück, ist aber immer noch genauso wahr wie vor 60 Jahren)

- Die Jugend von heute lernt nichts Gescheites und kennt keine Disziplin (Goethe oder Humboldt oder wer auch immer, vermutlich auch Marx)

- Der Fußball war früher ehrlicher (Fritz Walther)

- Heutige Generationen kennen keinen Anstand, sondern nur noch Egoismus (Aristoteles [Onassis])

- Früher war sogar die Vergangenheit besser (RCC)

Uihh. Die vom Tagesspiegel wollen, dass wir (Schneider & Elitz) begründen, warum man den Flughafen Tempelhof sofort wieder einzäunen sollte.

„Am besten, wir fangen mit irgendwas an, das keiner anzweifelt, weil es gut klingt“, sagte Elitz zu mir, „dann wird auch der Rest nicht angezweifelt“. „Gut“, entgegnete ich, „also: Die Radfahrer werden immer unverschämter.“ „Nicht schlecht. Aber das wird ein langer Bogen bis zur Fliegerei.“

Und dann hatten wir es:

Der Flughafen Tempelhof ist ein Mythos. Er steht für zwei Menschheitsträume – für die Befreiung des Menschen von der Erdenschwere, den Traum vom Fliegen, und er steht für die Sehnsucht nach Freiheit.
Sauberer Einstieg. Mythos ist ein gutes Ticket für die abwegigsten Schlussfolgerungen. Aber Elitz blieb skeptisch. War das nicht ein bisschen zu deutsch – Menschheitsträume, Erdenschwere und so? Am besten lassen wir’n zertifzizierten Weltbürger noch mal ran.

Auf dem 300-Hektar-Areal im Herzen Berlins haben sich beide Menschheitsträume erfüllt. 1923 wurde hier der erste Verkehrsflughafen der Welt eröffnet. Damit wurde Tempelhof zur „mother of airports“, zur „Mutter aller Flughäfen“, wie der Weltbürger Norman Foster das Flugfeld rühmt.
So, jetzt haben wir’s. Alles drin, oder? Nein, sagt Elitz, „mother of inventions“ klinge zu sehr nach Frank Zappa, wir müssen auch was für die Frankophilen in Zehlendorf schreiben. Gesagt, getan.

Wer diesem Welt-Ort, dem „lieu de mémoire“, dessen Größe und markante Umrisse noch im Weltraum deutlich erkennbar sind, eine würdige Zukunft geben will, muss den Traum vom Fliegen und die Sehnsucht nach Freiheit zur zentralen Idee einer Neugestaltung des Geländes erklären.
Das Fundament war gelegt. Jetzt ein kurzer und tollkühnenr Sprung über die „etwas andere Zeit“ (hi hi, sagt des Elitz, immerhin auch ein Mythos) unseres “lieu des mères“ und dann schenken wir erst den Russen einen ein, und dann dem Wowi.

Vier Jahrzehnte später wurde Tempelhof zu einem Welt-Ort der Freiheit. Als vom Juni 1948 bis zum Mai 1949 ein schier unendlicher Strom von Flugzeugen voller Lebensmittel die 2,2 Millionen Bewohner der West-Stadt vor der von Stalin gesetzten Alternative „Kommunismus oder Verhungern“ bewahrte, wurde dem nach Westen drängenden System der Freiheitsverachtung eine klare Grenze gesetzt. Die Sowjets kapitulierten; dank der Luftbrücke überlebte West-Berlin und wurde zum Symbol hart erkämpfter politischer und persönlicher Freiheit. Die Ausstrahlung der Stadt als Leuchtfeuer freien Denkens mitten im sowjetischen Machtbereich hat entscheidend zum Fall des Eisernen Vorhangs und zum Sieg der Demokratie auf dem wiedervereinten europäischen Kontinent beigetragen. So haben sich beide Träume der Menschheit an diesem Ort in einmaliger Weise historisch verknüpft. Ohne die Freiheit des Menschen, mit dem Fliegen alle Grenzen zu überwinden, wäre die politische Freiheit nicht zu gewinnen gewesen.. Der Flughafen Tempelhof ist mehr als ein lokaler Bebauungsraum, er ist Ort und Denkmal der Weltgeschichte.

In Berlin wird Weltgeschichte auf Bezirksamtsebene behandelt. Was die Stadtentwicklungspolitik des Senats für Tempelhof plant, hat für die Menschheit schon jenseits von Nauen keine Bedeutung mehr. Auffälligstes Merkmal dieser Planung ist der Verzicht auf jede Ambition jenseits des Gewöhnlichen. Berlin verabschiedet sich vom historischen Mythos und richtet sich im Alltäglichen ein. Hier heißt das Leitmotiv Freizeit – nicht Freiheit.
Den nächsten Abschnitt hatten wir in Windeseile fertig. „Natürlich darf man ein solches Juwel, ein Denkmal der Weltgeschichte und ein Symbol hart erkämpfter Freiheit nicht denen überlassen, die damit gar nichts anfangen können und nichts dafür getan haben, etwa den Hartzern aus Neukölln, den Dealern aus der Hasenheide, Frau Klabuffke aus Tempelhof oder – ganz allgemein – dem Pöbel, dem Preklariat, kurz: dem gemeinen Volk. Wir entweihen schließlich auch nicht dieses Heiligtum, sondern geben uns mit dem zufrieden, was gleich vor unserer Haustüre liegt: dem Grunewald und dem Schlachtensee. Dann kann man das auch von denen verlangen, die nur von Transferleistungen leben. Wo kämen wir hin, wenn das Symbol der Freiheit frei zugänglich wäre?“

Großer Beifall in der Redaktionskonferenz. Trotzdem kam der Chefredakteur hinterher zu uns. Er wirkte etwas nervös, und es war ihm sichtlich peinlich. „Ihr habt den Nagel auf den Kopf getroffen, aber…“ „Aber was?“, konterte Elitz gereizt. „Ähem. Wir haben immer noch ein paar Abonenten in den Slums. Vielleicht könnt ihr den letzten Absatz ein bisschen umschreiben?“ Der Elitz und ich sahen ihn feindselig an. Wir wollten schon den alten Mist mit der Schere im Kopf rausholen, aber dann sahen wir die zwei Premierenkarten, die der Chef wie zufällig fallen ließ. Er hatte ja recht: Weniger plakativ kann noch schmerzhafter sein.

Verbunden mit dem so bürgerfreundlich klingenden Angebot vielfältiger Zwischennutzung wird das Ganze im Chaos landen. Denn haben erst mal Scater, Speedminton-Spieler, Currywurst-Brater, Strandsegler, Schrebergärtner und Mountain-Biker sich des Geländes bemächtigt, wird jeder, dem doch noch eine Idee für das Ganze kommt, kapitulieren müssen vor den allfälligen Demonstrationen, Volksbegehren und Rathausbesetzungen. Die Aneignungsselbstsucht kennt nur das besitzanzeigende Substantiv „Nutzung“.
Wir lasen uns das gegenseitig immer wieder vor, und kamen kaum raus aus dem Lachen. Schließlich, nach einem weiteren „vin de mémoire“, kamen wir auch noch auf einen gute Schlusspointe. Immerhin sollten wir ja auch Anregungen für eine gemeinnützige Aneignung geben. Der Elitz ist Prof für Kulturmanagement, und ich halt Architekt. Beide sind wir bei der „Stiftung Zukunft“ (hi hi) tätig, einem Freudeskreis der Berliner Wirtschaft, die 300 Hektar Bauland in der City gut verscherbeln könnte.

Wer dem widerstehen will, muss den Flughafen Tempelhof aus dem provinziellen Zugriff des Berliner Behördendenkens befreien. Der Ort, an dem sich im 20. Jahrhundert historisch fassbar zwei Menschheitsträume – vom Fliegen und von der Freiheit – erfüllt haben, braucht ein international besetztes Schutzkomitee, in dem Planer, Architekten, Geschichtswissenschaftler und Kunsthistoriker von Weltruf eine Idee für die Gesamtgestaltung dieses „lieu de mémoire“ entwerfen. Kleinmut gibt es im Überfluss. Einfach mal das Große versuchen. Dieser Ort verdient einen großen Entwurf und die Tatkraft, ihn umzusetzen.
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Natürlich wäre es schön, wenn Bernd Schneider und Ernst Elitz nicht, wie hier angenommen, in Schlachtensee oder Dahlem wohnten, sondern in Stahnsdorf oder Kleinmachnow. Dann hätten sie nämlich demnächst das Neue Akustische Denkmal für die „erfüllte Freiheitssehnsucht und seiner grandiosen Raumfigur“ der „daughter of the mother of airports“ (BBI) ganz in ihrer Nähe.